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Geschichte

1870–2020: 150 Jahre Vinzenzgemeinschaften in der Steiermark

Es gibt ganz wenige Vereine in der Steiermark, die auf eine 150-jährige Geschichte zurückblicken können und gleichzeitig aufgrund ständig wechselnder Verhältnisse einen derartigen Wandel in der Aufgabenstellung erlebt haben. 

VG St. Vinzenz 1930

Gruppenfoto der Vinzenzkonferenz Graz-St. Vinzenz anlässlich des 50-jährigen Bestandsjubiläums 1930 (c) Alois Fauland

Die triste Ausgangssituation

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Am Beginn standen die völlig veränderten gesellschaftlichen Bedingungen während der Industrialisierung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, als immer mehr Menschen in die industriellen Ballungsräume strömten. So hatte Graz um 1800 rund 32.000 Bewohner, im Jahr 1900 lebten im Großraum bereits 138.000 Menschen. Das führte zum Auseinanderbrechen von Familienverbänden und mangels staatlicher oder kommunaler Absicherung in weiterer Folge zu einer Verelendung großer Teile der Arbeiterschaft und des Bauernstandes, aber auch von Handwerkern und kleinen Gewerbetreibenden. Viele Kinder lebten mangels Aufsicht mehr oder minder auf der Straße und verwahrlosten. Ein ebenfalls großes soziales Problem waren die vielen Waisenkinder, für die von staatlicher Seite nicht ausreichend oder nur sehr schlechte Pflegeplätze zur Verfügung gestellt wurden.

Aufruf Gründung Vinzenzverein 1871 im Grazer Volksblatt

Aufruf zur Unterstützung des Vinzenzvereines 1871 im Grazer Volksblatt (c) Steiermärkische Landesbibliothek

1871: Der erste Verein

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Nach der Gründung von Vinzenzvereinen in Innsbruck (1849), Linz (1850) und Wien (1854) gab es ab 1864 auch in der Steiermark entsprechende Bemühungen. Am 1. Jänner 1871 schließlich wurden die „Statuten des Vereines vom heiligen Vinzenz von Paul in Steiermark“ genehmigt und kurz darauf ein Aufruf im „Grazer Volksblatt“ zur Mithilfe und Mitarbeit veröffentlicht. Ziel des Vinzenzvereines sei es, nicht nur den Armen das Nötigste zu geben, sondern darüber hinaus, „die Armen selbst zu bessern und auch uns selbst mitzubessern, Gebende und Nehmende durch christliche Barmherzigkeit zu heiligen. Er sucht armen Familien Pflege, Rat, Erziehung in möglichst zarter Freundschaft durch fortdauernde Besuche zu gewähren“. Die Aktivitäten nahmen rasch Fahrt auf, zwischen 1871 und 1884 waren bereits sieben Vinzenzkonferenzen, vier Knabenasyle und eine Dienstvermittlungsanstalt in Graz gegründet worden.  

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Titelseite des Rechenschaftsberichtes des Vinzenzvereines 1891 (c) Diözesanarchiv Graz-Seckau

Die Knabenasyle

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Das Ziel der „Asyle“ war es, darin schulpflichtige Knaben von armen Eltern in der schulfreien Zeit  aufzunehmen, sie christlich zu erziehen, sie bei den Hausaufgaben zu unterstützen, ihnen wenigstens zu Mittag ein ausreichendes Essen zu geben und sie bei Bedarf mit Kleidern und Büchern zu versorgen. Ebenso sollten die Eltern der Buben dahingehend religiös-sittlich beeinflusst werden, damit diese in weiterer Folge ihre Kinder besser erziehen können.

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Es handelte sich dabei um das Vinzentinum in der Neubaugasse, das Josefinum in der Moserhofgasse, das Marianum in der Leonhardstraße und das Aloisianum in der Herrgottwiesgasse. Eigentümer war jeweils der Vinzenzverein, die Leitung lag aber in Händen von Priestern, deren Aufgabe es gemeinsam mit den in den Einrichtungen stationierten Barmherzigen Schwestern war, „die Kinder zu Gottesfurcht, Reinlichkeit, Ordnungsliebe und zum Fleiße anzuhalten“. Die Asyle sollten dabei „keine bloße Versorgungs- und Dressur-Anstalt sein, wie die weiland (damals) spartanischen Staatsanstalten es waren“.

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Das Knabenasyl Aloisianum um 1920 (c) Johann Zischkin

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Das Knabenasyl Vinzentinum um 1920 (c) Johann Zischkin

Die Barmherzigen Schwestern

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Die Barmherzigen Schwestern waren unermüdlich tätig: Über die anfangs nur von zwei bis drei Schwestern geführte Hauswirtschaft im Josefinum erzählte man sich beispielsweise in der Nachbarschaft, dass die Schwestern manchmal am Morgen noch nicht wussten, woher sie die Lebensmittel für das Mittagessen der Kinder nehmen sollten. In diesem Fall erbettelten sie das Nötigste einfach bei den Nachbarn in der Münzgraben- und der Moserhofgasse. Die Schwestern mussten überdies in den ersten Jahren – mangels Wohnmöglichkeit für sie im Josefinum – jeden Tag den weiten Hin- und Rückweg von der Moserhofgasse in das Mutterhaus in der Mariengasse zurücklegen.

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Die Knabenasyle erfuhren in ihrer weiteren Geschichte bis zum Zweiten Weltkrieg durch den starken Bedarf an weiteren Betreuungsplätzen zahlreiche Umbauten und Erweiterungen. Zwar standen die Häuser unterschiedlich in der öffentlichen Aufmerksamkeit und es gab nicht immer einen prominenten Protektor, Schutzherren oder Schutzfrauen, dennoch gelang es dem Vinzenzverein immer wieder, genügend Spendengelder aufzutreiben, um die Häuser nicht nur laufend zu betreuen, sondern auch zu vergrößern.

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Das Knabenasyl Josefinum um 1920 (c) Johann Zischkin

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Das Knabenasyl Marianum um 1920 (c) Johann Zischkin

Die Kolonie Eibiswald

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Mit der Gründung der Außenstelle des Vinzentinums in Eibiswald, der „Kolonie Eibiswald“, verfolgte man zwei Ziele: Sie sollte der Entlastung des aus allen Nähten platzenden Asyls in Graz dienen und das Stammhaus mit den landwirtschaftlichen Erträgnissen des Gutsbetriebes versorgen. Hier wollte man Buben, die Liebe und Talent zur Landwirtschaft zeigten, entsprechend ausbilden, indem die Zöglinge inmitten des landwirtschaftlichen Betriebes aufwuchsen. Denn es seien „das leichtfertige Ausbrechen der jungen Menschen aus den bäuerlichen Familienstrukturen und ihr Wegzug in die Städte schuld an der Not und dem Elend der Arbeiterschaft in den Industrieorten“. 

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Zeitgenössische Darstellung des Schlosses Eibiswald um 1900
(c) Steiermärkisches Landesarchiv

Der Mäzen Leopold von Lilienthal

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Der größte Förderer und Mäzen des Vinzenzvereines in der Steiermark war Leopold von Lilienthal (1811-1889), der durch eine reiche Heirat zu Vermögen kam. Die Ehe blieb kinderlos und nach dem frühen Tod seiner Frau beschloss er, „die von der verewigten Gattin ererbten Güter zu religiösen Zwecken und zum Wohle seiner Mitbürger zu verwenden“. Nach großzügigen Unterstützungen für zahlreiche Projekte zu Lebzeiten ernannte er schließlich Fürstbischof Dr. Johannes Zwerger zu seinem Universalerben, „mit der Verpflichtung, das ganze Vermögen nach seiner freien Einsicht und ohne Controlle zu wohltätigen Zwecken zu verwenden.“ Es folgten großzügige Subventionen für den Bau der Grazer Herz-Jesu-Kirche und der St. Vinzenzkirche in Eggenberg sowie für den Bau und die Erweiterung und Erhaltung der fünf Knabenasyle. Die so gelegten Grundsteine des heutigen Vereinsvermögens ermöglichen dem Steirischen Zentralrat noch in der Gegenwart regelmäßige Auszahlungen an die aktuell 60 Vinzenzvereine.​

Leopold Edler von Lilienthal

Leopold Krametz Freiherr von Lilienthal

Die heutigen Nebenwerke

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Aus historischer Sicht ist es auch interessant zu beobachten, dass in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die Idee der „Nebenwerke“ des 19. Jahrhunderts einen Neubeginn z. B. in Form der VinziWerke erlebte – natürlich den gegenwärtigen, völlig anderen sozialen Verhältnissen angepasst: Waren es im 19. Jahrhundert die mehr oder minder auf der Straße lebenden Kinder gewesen, denen ein „Asyl“ geboten wurde, wo sie ein Dach über dem Kopf, Bekleidung und Nahrung erhielten, so sind es heute sozial Benachteiligte, Obdachlose, Asylanten und Drogensüchtige, denen durch die VinziWerke „Asyl“ gegeben wird. 

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Vereinshaus Georgigasse 40 um 1920 (c) Johann Zischkin

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"Die Liebe ist bis ins Unendliche erfinderisch."
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